Bismarck 10

Ich stand am Waffenplatz, als ich  von der Zentrale Bismarck 10 vermittelt bekam. Es war der letzte Winter-Sonntag, der 18. März, kurz nach 23 Uhr, und es pieselte leicht.

Ich weiß noch, daß ich darüber grübelte, ob die 10 nicht eine  Spriti-Adresse wäre, während ich über Mottenstraße, Heiligengeistwall, Ofener und Herbart in die Bismarck bog und mich auf etwas stinkend Angesäuseltes einstellte.

Nach einigem Suchen entdeckte ich am linken Straßenrand, vielleicht 30 Meter entfernt, eine kleine, warmvermummte, männliche Gestalt, die, als ich dort hielt, ihren Oberkörper langsam zur Verbeugung nach vorn neigte, so daß mein  Phantasie-Alkoholiker krepierte und ich an einen ewig lächelnden Asiaten, einen Japaner oder Chinesen dachte.

Der Mann ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür, stieg ein und gab mit  polnischem Akzent an, zur ARAL Hundsmühler zu wollen. Ich blickte - ein wenig über mich schmunzelnd - in das Gesicht dieses suchtkranken Eurasiers und beließ es schweigend dabei.

Geradeausschauend  erreichten wir, jeder für sich, die Tanke und der Typ fing an, in seinem Portemonnaie nachzuzählen, wieviel Kohle er abzüglich des Hin- und Rückfahrpreises für Bier abzwacken könne. Er grummelte noch etwas  Unverständliches in die Sphäre und verschwand mit einer zusammengeknüllten Neukauf-Plastiktüte in seiner Linken im Verkaufsraum, kam keine drei Minuten später zurück, setzte sich wieder in die Taxe, und ich fuhr los, diesmal in die andere Richtung.

Etwa in Höhe des Hotel Metz fragte mich der Kerl plötzlich mit ruhiger, bedächtiger Stimme, ob ich noch Eltern hätte, was ich bejahte. Er meinte, ich solle  glücklich über diesen Umstand sein, wobei ich mir der Sache längst nicht so sicher war wie er.

Nach einer Pause begann er zu erzählen, daß zwei Wochen zuvor seine Mutter gestorben und nachdem sein Vater bereits seit 2 Jahren tot sei, er nun völlig alleine wäre.

Ich wurde nachdenklich, kam mir schäbig vor, und nahm ein bißchen vom Gas weg, um ihm die Zeit zu geben, die er bräuchte.

In seinen Augen standen Tränen, und der Gute guckte immer noch geradeaus, erzählte von seinem in Kanada lebenden Sohn und seiner geschiedenen Frau. Daß er das Alleinsein nicht mehr ertrüge und jemand ihm  geraten hätte, einmal eine Messe zu besuchen, um im Glauben Kraft zu finden. Ich fragte, wie er darüber denke, und er entgegnete, es versuchen zu wollen.

Zurück in der Bismarck verabschiedeten wir uns mit einem Händedruck und der Gewißheit, einander nie wiederzusehen. Ich weiß nicht, ob ich ihm habe helfen können, mit welchem Gefühl er ausstieg, aber er würde für immer in meinem Gedächtnis bleiben,  soviel war sicher. In diesen paar Minuten, die die Fahrt dauerte, hatte mich mein Fahrgast in sein Leben gelassen. Ein paar Minuten, in denen wir Brüder waren.
(es)

 

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